Kollateralschäden
Zuruf im Januar 2024
Immer wieder regnet es Eis.
Es verhagelt dir die Seele,
das viele Leid in der Welt:
Gewalt, Abgründe, Terror,
Fundamentalismus überall,
Antisemitismus,
und diese ohnmächtige Vereinzelung,
in die dich das alles drängt,
dieser Rückzug gefühlt ohne Hoffnung.
Und dennoch: Das Herz warmhalten,
dass es mitleidend bleibt,
statt hart zu frieren,
und gemeinsam widerstehen.
Kosmisch
Zuruf im Februar 2024
Von den Sternen aus gesehen,
sind unsere Fußspuren nicht sichtbar.
Hier unten aber,
blinzelnd wahrnehmbar,
funkelt ein wenig Sternenstaub
in ihnen,
gerade dort,
wo sich die Fersen
tiefer eingegraben haben.
Meditation
Zuruf im März 2024
Der nächtliche Regen hat aufgehört.
Frühes Licht glänzt in perlmutternem Klang,
wölbt sich leuchtend in den Himmel
wie ein großes muschelförmiges Zelt.
Zwei Graureiher, von rechts kommend, tauchen darin ein.
Sie kehren gesättigt von den Dorfteichen zurück.
Ihre Flügelbewegung wirkt wie ein gemächlicher Ruderschlag
auf einem See mit Lichtspiegelungen.
Mein Sehen wird langsamer und langsamer.
Die großen Vögel scheinen fast in der Luft zu stehen.
Ich staune.
Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.
Werdekraft
Zuruf im April 2024
Und das Frühjahr
zündet im Keimling
die grüne Lunte,
über Wochen wachsend,
emportreibend,
explodiert sie
sanft knospend
als Blüte,
gefeiert vom Licht.
Dieser Text erscheint im Sommer 2024 im neuen Buch „Senkrechter Gesang“.
Früh im Mai
Zuruf im Mai 2024
Die Sonne
erhellt ein junges Buchenblatt,
auf das der Frühling
in Schönschrift notiert:
Ich werde.
Alter Straßenmusikant
Zuruf im Juni 2024
Er spielte Laute und sang dazu,
stand viele Jahre immer an derselben Straßenecke.
Als seine Finger die Saiten nicht mehr bewegen konnten,
legte er sein Instrument neben sich auf ein samtenes Tuch:
Warme Holztöne leuchteten auf schwarzem Grund.
Und er sang ohne Begleitung weiter.
Als seine Stimme brüchig wurde und zu leise,
stand er immer noch da, summte nun seine Lieder.
Die Laute blieb an seiner Seite wie eine Freundin
aus alten Zeiten.
Und es blieb tagtäglich dieses stille Glück,
in sein wunderbares Gesicht zu schauen,
ein Gesicht voller Freude, immer noch Musikant zu sein.
Aus: „Senkrechter Gesang“, Sommer 2024
Psalm
Zuruf im Juli 2024
Friede
Du sagst zu mir:
Friede sei mit dir
und deinem Leib und all seinen Organen,
die dich durchs Leben tragen.
Friede sei mit deiner Seele,
die dich fühlen und träumen lässt.
Friede sei mit deinem Geist,
mit dem du Sinn suchst und wirken darfst.
Friede sei mit dir.
Dieser Text erscheint im Sommer 2024 im neuen Buch „Senkrechter Gesang“.
Wales
Zuruf im August 2024
Unzählige Wiesenvierungen,
unregelmäßig geformt,
gesäumt von Hecken und Steinmauern,
darin freilaufende Schafe
in einem warmen Leuchten,
zahllose weiße Punkte im Grün,
ausgestreut wie die Lichter
am Sternenhimmel.
Es ist hier so entschieden Sommer,
wie der Winter Sommer nicht sein kann.
Dieser Text stammt aus dem Buch „Perlen Weinen“, erschienen im Jahr 2020
Spalten
Zuruf im September 2024
Gras im Granit:
ein bisschen Heute
im Uralt.
Morgendämmerung
Zuruf im Oktober 2024
Mach das Licht nicht an,
schau, wie es allmählich tagt.
Die schwarzen Fensterscheiben werden durchsichtig,
erstes Dunkelgrau hebt sich ab von den Baumsilhouetten.
Später hellgraue Wolkenlagen darüber,
anthrazitfarbene Regenbänke direkt über den Höhenzügen,
dazwischen ein helles Glimmen,
eine erste Lichtlinie.
Mehr und mehr mischt sich ein Hauch von Rosa ein.
Erste Wärme atmet durch die Wolkenzüge.
Die Landschaft nimmt Kontur auf.
Zwischen den Senken im Tal erste kleine Nebelschwaden:
Der Herbst sendet frühe Boten.
Aus dem Buch „Werde kein Zweig kleiner Vogel“ (2021)
Passage
Zuruf im November 2024
Der Sarg ist ein Boot.
Es wird gesegnet
und auf eine lange Reise geschickt,
treibend, ohne Ruder,
zu Gestaden, die niemand kennt.
Und das Kreuzholz,
das zuvor daraufgestellt,
hat tiefe Wurzeln,
tiefe Wurzeln in ein Grab hinein,
gefüllt mit Blattgoldlagen
zerbrechlicher Auferstehungshoffnungen.
Psalm
Zuruf des Monats im Dezember 2024
Mut Bitte
Schenke mir ein leitendes Licht
für die Tage, die kommen wollen.
Erfülle mich mit der Zuversicht,
unter dunklen Wolken weiterzugehen.