2020
In Zeiten
Zuruf im Januar 2020
In Zeiten
wenn die Hellsichtigen
schwarzsehen
dürfen wir nicht aufhören
Lichtnester zu suchen
in denen wir
verheißungsträchtige Gelege
warmhalten und neuen Gesang
ausbrüten
Er durchsonnt uns auf Herzhöhe
lässt in uns das dennoch Mögliche
im Unmöglichen wirklich werden
Gehen wir doch so ins neue Jahr
In aller Frühe
Zuruf im Februar 2020
In aller Frühe
ereignet sich Vogelgesang,
das letzte Nachttier
schlüpft ins Verborgene unter
und milchiges Weiß
lichtet das Dunkel auf,
allmählich.
Erst dann folgt das Fremde:
Der lärmige Mensch geht auf seine Hatz.
Flussperlmuschel
Zuruf im März 2020
Weich und nackt lebt sie
in ihrem erdfarbenen Muschelhaus,
ummantelt mit Perlmutt,
was nicht zu ihr gehört,
aber dennoch in ihr bleiben wird.
Sie lagert es ein
in ihrem Durchströmtwerden,
gleich den zartfühligen Menschen:
Sie speichern ihre innere Flut,
kristallisieren sie und weinen sie als Perle.
Quarantäne
Zuruf im April 2020
Meine Quarantäne hat viele Zimmer,
den scharlachroten Raum
der Ängste um die, die mir nah sind, und um mich,
die Furcht vor Verlust und Tod,
den enzianblauen Raum,
wo die Gedichtbändchen stehen, die Romane,
wo die Musik von Erik Satie erklingt,
die wärmende Stimme von Mark Knopfler mich tröstet,
wo das Herbarium aufgeschlagen liegt,
den ilexgrünen Raum,
in dem mich die vielen Einschränkungen stechen,
die abgesagten Konzerte und Ausstellungen,
die nicht möglichen Gespräche und Begegnungen,
die Vereinzelung,
den löwenzahngelben Raum
der biblischen Worte, des Psalmgebets
des Hoffens und Erbarmens,
der Stille,
den dunkelroten Raum
des Wutgebrülls
der Sturmtiefs und der entwurzelten Bäume,
des Espenlaubzitterns,
der Nachtfröste,
den weißen Raum
des Telefons, das kaum stillsteht,
des Internets fürs Mailen und Skypen,
des Briefpapiers,
den perlmuttschimmernden Raum,
wo lange vergessene Perlen wieder nach oben kommen.
Früh im Mai
Zuruf im Mai 2020
Die Sonne
erhellt ein junges Buchenblatt,
auf das der Frühling
in Schönschrift notiert:
Ich werde.
Werde kein Zweig, kleiner Vogel
Zuruf im Juni 2020
Werde kein Zweig, kleiner Vogel.
Du kannst fliegen,
kannst landen und frei abheben.
Nach der Beobachtung einer Blaumeise, die in unserer Linde lange auf einem dünnen Ast saß.
Wales
Zuruf im Juli 2020
Unzählige Wiesenvierungen,
unregelmäßig geformt,
gesäumt von Hecken und Steinmauern,
darin freilaufende Schafe
in einem warmen Leuchten,
zahllose weiße Punkte im Grün,
ausgestreut wie die Lichter
am Sternenhimmel.
Es ist hier so entschieden Sommer,
wie der Winter Sommer nicht sein kann.
Ekklesia
Zuruf im August 2020
Das kranke Schaf
hört den Hirten nicht mehr.
Es bleibt zurück,
gerät ins Unwegsame.
Der Hirte verliert es aus seinem Blick.
Barfuß über steinigem Grund
steigt dem Schaf eine Hirtin nach,
mit brennendem Herzen,
und holt es heim.
Kosmisch
Zuruf im September 2020
Von den Sternen aus gesehen,
sind unsere Fußspuren nicht sichtbar.
Hier unten aber,
blinzelnd wahrnehmbar,
funkelt ein wenig Sternenstaub
in ihnen,
gerade dort,
wo sich die Fersen
tiefer eingegraben haben.
Spätlese
Zuruf im Oktober 2020
In
der Umarmung
des Windes
staunt
meine Haut
über
diese Frische,
diesen Übermut,
diese Bewegung
voller Umströmung.
Spätsommerliches Licht
und seine sanfte Wärme
lassen mein Gesicht erblühen.
Mein Atem
strömt ein und aus
dankend und liebend:
tiefe Lebensfreude.
Psalm
Zuruf im November 2020
Manchmal
geschieht an mir
der weite Moment des Erbarmens,
da DU für mich atmest
in der Not.
Wieder Bethlehem
Zuruf im Dezember 2020
Der Winterwind singt raue Lieder
durch die Wälder auf den Höhen,
durch die engen Täler,
über das löchrige Dach
einer kleinen Hütte hinweg,
dieser geduckte Stall für die ohne Herberge,
das bedeutungsschwere Zeichen
mit dem Neugeborenen,
mit der gestirnten Verheißung,
erfüllt von der aufwärmenden Naivität,
die für Neuanfänge unverzichtbar
und trotz allem.