2022
Gegenwart
Zuruf im Januar 2022
Du schaust mich an,
und daraus lebe ich.
Du hörst mich an,
und daraus stehe ich.
Du hältst Deine Linke unter mich,
und ich erfahre Grund und Tiefe.
Du hältst Deine Rechte über mich,
und ich fühle mich geborgen-beschützt
vor den Unwettern des Nichts.
Corinna
Zuruf im Februar 2022
Im Satz meines Lebens stehe ich meist im Dativ.
An mir geschieht etwas,
mir widerfährt etwas,
mir wird etwas gegeben.
Hier bin ich ein Ort, ein Hauspunkt, eine Bleibe,
die immer wieder aus dem Häuschen
geraten kann und muss.
Dann werde ich eine, die handelt.
Ich reagiere, agiere, kreiere,
richte mich aus,
neige mich in den Wind des Geschehens
zwischen Fallen und Stehen,
fürchte mich
vor dem Ausgeliefertsein,
dem Erleiden,
danke für das Beschenktwerden,
das Fruchtbarsein.
Und immer wieder fange ich irgendwo neu an,
werde umzingelt von Umständen,
die überwunden werden wollen
durch Entschlossenheit und Ausdauer,
durch Handeln und Hilfeholen,
durch Tanzen und Spielen an Wendepunkten,
die gefunden werden wollen,
dass es sich ereignen kann,
das zarte Neue im großen Alten.
Nachtgedanke
Zuruf im März 2022
Sternenhimmel.
Darunter unser Haus.
Die Fenster schwarz und zu.
Wind weht scharf.
Die Bäume ohne Laub
bewegen sich kaum:
knarrendes Leitgeäst wie eine Klage
im Sternenraum.
Die Pfannen klappern,
halten sich fest aneinander.
Unter dem Dach schlafen wir
unruhig auf einen Tag zu,
dessen Stunden wir nicht kennen.
Aus dem Buch „Perlen Weinen“ (2020)
Zuruf
Zuruf im April 2022
Ich lasse
die Angst
den Schmerz
das Widerfahrnis
zu
die Drohungen
des Todes
dennoch
möchte ich offen
bleiben
für den Segen
unter dessen Schutz
ich reise
Aus dem Buch „Zurufe“ (2012)
Bildgeschenk
Zuruf im Mai 2022
Das Sichtbare
ist vielleicht nur ein Unsichtbares
hinter einer Maske,
das sich fürchtet,
von deinen Augen erkannt zu werden.
Nimmst du dir Zeit und schaust es
mit liebevollen Blicken an,
traut es sich manchmal
für Momente,
dir sein Gesicht zu zeigen.
Wanderatelier
Zuruf im Juni 2022
Pssst
flüstert Wind durch das vollkommene Rund
der Pusteblumen
schickt ihre Flugsaat auf die Reise
neues Leben weiterzutragen
Lautlos tanzen die Federleichten in der Luft
hochfliegende Schirme
in Erdnähe gehalten
von einem Samenkorn
Bald senkt es sich ein
in die Ruhe der Erde
sucht hier Ankunft in der Ummantelung
seines möglichen Fruchtbarseins
(aus: Buch Frühlingsläufer 2016, S. 31)
Autobiografische Architekturen
Zuruf im Juli 2022
Ein silbrig-grüner Ton
durchscheinend und mit einem lilanen Hauch
wie eine Wiesenfläche bedeckt von Heu
im frühen Morgenlicht
so hörte er den Klang des Hirtentäschels
und er stimmte ihn still und heiter
Diese Pflanze mit den taschenartigen Fruchtknoten
wiegte sich geschmeidig im Wind
Sie kam leichtfüßig daher
einfach und sorglos
Für ihn war sie eine weit Gewanderte
mit vielen kleinen Reisetaschen
in jeder Tasche das Samenkorn
einer Geschichte aus schillernder Ferne
Den silbrig-grünen Ton und das Beschwingte
ihrer Bewegungen gewann er lieb
und so säte sich das Hirtentäschel ein in sein Herz
und eine stille Heiterkeit wurde sein inneres Wesen
(aus: Buch „Zurufe“, 2012)
Autobiografische Architekturen
Zuruf im August 2022
Diesmal, meine Seele, sei beruhigt,
diesmal werde ich mich nicht aufbäumen,
nicht so anstrengen, nicht kämpfen.
Diesmal, meine Seele, sei beruhigt,
diesmal werde ich den zärtlichen Weg gehen,
den langsamen.
Ich werde daran arbeiten, so viel Gleichklang
und Ruhe in all meinen Fasern freizusetzen,
in all dem, was zu mir gehört,
dass ein maßvolleres, heilsameres Leben
mit mir selbst gelingen kann.
Diesmal, meine Seele, sei beruhigt.
Ich möchte lernen, aus meinen Quellen heraus
zu leben und zu wirken, weniger über Taten,
als über meine Präsenz, eine Präsenz,
die aus einer tiefen, ruhigen Strömung frei fließt.
Und mein Strömen mag sich so gemächlich
voran bewegen, dass Andere sich darin
spiegeln können.
Und irgendwann, meine Seele,
werde ich münden im Ozean.
Aus dem Buch: „Frühlingsläufer“ (2016)
AUS HOHLER HAND
Zuruf im September 2022
Umschwiegen vom Wald
trinke ich aus der Quelle
etwas unterhalb der Höhe
lausche dem singenden Ton
des jungen Wassers
dem Rinnen
zwischen den Schieferplatten
das dann Fahrt aufnimmt
ins Tal hinab
das seinen Lauf findet
Fluss wird
im Meer mündet
Morgendämmerung
Zuruf im Oktober 2022
Mach das Licht nicht an,
schau, wie es allmählich tagt.
Die schwarzen Fensterscheiben werden durchsichtig,
erstes Dunkelgrau hebt sich ab von den Baumsilhouetten.
Später hellgraue Wolkenlagen darüber,
anthrazitfarbene Regenbänke direkt über den Höhenzügen,
dazwischen ein helles Glimmen,
eine erste Lichtlinie.
Mehr und mehr mischt sich ein Hauch von Rosa ein.
Erste Wärme atmet durch die Wolkenzüge.
Die Landschaft nimmt Kontur auf.
Zwischen den Senken im Tal erste kleine Nebelschwaden:
Der Herbst sendet frühe Boten.
Aus dem Buch „Werde kein Zweig kleiner Vogel“ (2021)
Wir Heutige
Zuruf im November 2022
Die Räume sind leer,
in denen Antworten gegeben werden,
und unsere Fragen haben kein Grün
unter den pilgernden Füßen.
Es dürstet uns nicht, kommen wir
an guten Quellen vorbei.
Auch der brennende Dornbusch
leuchtet uns nicht ein.
Wann erreicht uns der Ruf:
Kehrt um und geht heim.
Hoffen zart
Zuruf im Dezember 2022
In der Dunkelheit von Krisen
reifen wie ein Samenkorn
und
zur rechten Zeit
als Weg ins Licht aufgehen
in die Welt zurück