2016

Bei dir am Sterbebett

Zuruf im Januar 2016

Ich finde keine Worte, die ich dir sagen kann.
Nichts klingt passend.
Mein Schweigen schweigt sich aus ohne einen Ton.
Ohne meine Lippen zu bewegen,
erzähle ich dir später etwas von früher:
Weißt du noch, wenn im März alles unter Froststarre lag,
da gab es diesen kleinen, warmen Ort in der Morgensonne,
wo der Frühling sich zuerst regte im grauen Winterfell:
Unter der alten Linde alljährlich eine Handvoll Winterlinge
– wie ein Nest warmgelber Köpfe junger Kanarienvögel.
Durch die dunkelbraune Laubdecke hindurch riefen sie
nach Licht.
Von hier aus brach das Wintergrau auf – unaufhaltsam,
brach auf ins Gelb der Narzissen, des Löwenzahns, des
Hahnenfuß`, brach auf ins Lilablau der Leberblümchen,
der Krokusse, des Schaumkrauts.
Von hier aus – wie aus einer mehr und mehr üppig
sprudelnden Quelle – verströmte sich alles in die Weite
der Wiesenflächen, verschwenderisch, bunt, duftend,
an den Feldrainen entlang bis in die Wälder.
Später lag der Ort des frühen Frühlings unscheinbar
im Schatten der Linde. Dankbar und ehrfürchtig gingst
du immer wieder mal mit mir daran vorbei.
Wir grüßten das nun erloschene Lichtnest der frühen
Winterlinge wie Blumen auf dem Grab des Winters,
wohl wissend, dass darunter die Lichtquelle lag.
Wir waren die einzigen Menschen im Dorf, die
das Geheimnis kannten. Wir verrieten es nicht.
Deine Lider bleiben geschlossen.
Zu hören ist nur dein Atem, holprig und leise.

Komm mit zu uns

Zuruf im Februar 2016

Komm mit zu uns
sagte er
bei uns kannst du dich an Gott vergolden

Mir genügt das Gelb des Löwenzahns
entgegnete sie ihm
und ging ihren eigenen Weg weiter

Eben noch sah die Nacht perlenblass

Zuruf im März 2016

Eben noch sah die Nacht perlenblass
in meine wachende Seele
eine Mondnacht in tiefe Milde getaucht

Feiner Klang rieselt aus
Zartes Licht scheint darin auf
wie Blütenstaub

Weich naht die Dämmerung

Über die Zeit schauen

Zuruf im April 2016

Du hebst dich heraus für eine Weile
aus dem Vergehen und Verwehen
schaust über deine Tage und Wochen
über deine Monate und Jahre

Du schaust weit
weit über die Landschaft deiner Zeit
schaust und schaust

Du tastest nach ihren Höhenlinien

Trost umfängt dich
Trost wie der Trost von Sternen

unendlich hoch
unbegreiflich kostbar

geschenkt von weither

Frühlingsläufer

Zuruf im Mai 2016

Es grünt hinter dir her

Fruchtbarkeit
strömt aus deinen Schuhen

In deiner Spur ist wundersames Wachsen

Es tut so gut
in dem Raum den du zu öffnen vermagst
zu atmen und zu gedeihen

Leichtigkeit überkommt
beflügelnd

Als springlebendiges Bächlein

Zuruf im Juni 2016

Als springlebendiges Bächlein
leuchtet die Spur
in der ich gehe
nassglänzend in der Sonne

Anfang Mai letzte Schneereste
hier gesammelt im Wald
ein alter Pilgerpfad
erzählt man

Hier kommen immer noch Menschen vorbei
sonst gäbe es diesen Weg heute
für mich nicht

Alte Zeitlinien

verbinden mich mit großer Ferne
verborgen und geheimnisvoll

geronnene Grasnarben
auf dem harten Gestein
fortwährender Suchbewegungen

Sie verlaufen nur wenigen bekannt
wie Echolinien uralter Fußzeichnungen
meist parallel zu den heutigen Straßen
oder kreuzen sie unauffällig

Zeitheftungen – Buchorte

Zuruf im Juli 2016

Aufgeschlagen
Seite
an
Seite
sich
selbst
gegenüber
die
Heftung
als
Wirbelsäule

die
Organe
der
Wissensbildung
spiegeln
sich
wider
in
der
menschlichen
Leiblichkeit

Die Berge in der Ferne

Zuruf im August 2016

Die Berge in der Ferne
schmeicheln deinem Auge
als wunderschön blaue Zelte

Näherst du dich
wird aus den Luftig-Leichten
harter grauer Fels
der dich zur Höhe herausfordert

Versunken

Zuruf im September 2016

Versunken
im Leib meiner Zeit
durchströmt mich eine
sanfte Ruhe

Ein funkelndes Fühlen
von einer tiefen Verbundenheit mit allem
reicht noch in meine entlegensten Zellen
Meine Sorgen mein Ringen und Kreisen
haben aufgehört zu sein

Ausgelassene Freude über mein Leben
implodiert in fragloses Schweigen
und mündet in großen Dank
der lange nachklingt in zärtlichem Trost

Für einen Moment sind alle Wunden geheilt
Alles in mir ist von Liebe erfüllt

Randlos

Horchen

Zuruf im Oktober 2016

Horchen
setzt ein weiches Segel

Empfangen
geht auf große Fahrt

und gelangt zu unbekannten Inseln
in dem Klangraum Ozean

Über die Dörfer

Zuruf im November 2016

Vor einem alten Fachwerkhaus,
aufwändig restauriert, wie es Zugezogene tun,
sitzt eine Frau,
zwischen ihren Beinen ein Cello ohne Saiten.

Ihr Kopf kahl. Ihre Haut grau. Ihre Augen hellblau.
Der Blick scheint in eine innere Ferne einbestellt.

Der geschwungene Holzkörper lodert warmtonig
vor ihrem langen Abendkleid:
Geflammtes Ahornrot wie eingebettet in Enzianblau.

Großartige Konzerte hatte sie früher darin gegeben.

Ihre rechte Hand fährt langsam und sanft über das Cello,
als streiche sie über ihren Bauch.

Zu mir herüber weht eine zerbrechliche Anwesenheit.
In ihr atmet eine Anmut,
die intensiv um die Kostbarkeit von Leben weiß,
für Gesunde so unerreichbar.

Der Himmel darüber hält sich bedeckt.
Er erscheint aussichtsreicher als gemeldet.

Sich rufen lassen

Zuruf im Dezember 2016

Sich rufen lassen
zu einem geistigen Leben

himmelwärts

Sich erheben
als Lichtsaat
als Lebenslicht

Sich ereignen