2021

Es sind Menschen auf den Brücken

Zuruf im Januar 2021

Es sind Menschen auf den Brücken

Blicke über die FFP2-Masken hinweg
Gehen über Briefstege
Sich-Hören über Telefonleitungen
Sich-Verbinden übers digitale Netz

Es sind Menschen auf den Brücken

Ihre Zuneigung
ihre Liebe zueinander
körperlos von Ufer zu Ufer
dazwischen reißendes Tosen:
Furcht Bedrohung Verlorenheit

Es sind Menschen auf den Brücken

Manche fallen hin und bleiben liegen
Sie schaffen es nicht alleine

Wer hebt sie auf?
Wer bringt sie rüber?
Wer bringt sie zurück?

Es sind Menschen

auf den Brücken
auf den Stegen
in der Leitung
senden SOS

Menschen

Satzzeichen

Zuruf im Februar 2021

Die Ausrufezeichen wandele ich um in Punkte,
die Punkte in Strichpunkte oder in ein Komma.
Ich streue reichlich Gedankenstriche ein.
Die Sätze werden kürzer gemacht.

Die Worte lassen das Drama los, werden einfach.
Die Schrift beginnt, langsam und schön zu fließen,
jeder Buchstabe wird sorgfältig ausgeschrieben.
Leichtigkeit atmet den Text.
Heilsam.

Aus: „Perlen Weinen – Neue Zurufe, 2020“

Heiner

Zuruf im März 2021

Eingebung

Er zog sein Boot auf den Berg etwas unterhalb vom Gipfel.

Dort klappte er seinen Stuhl aus, mitten im Geröll
zwischen fossilen Schnecken und Muscheln.

Er hatte alles Nötige dabei: Proviant, Kompass, Seekarten.

Hier erwartet er nun die Rückkehr des Ozeans.

Forelle

Zuruf im April 2021

Gegen das Geströme schwimmen,
zurück zur Quelle,
dort fruchtbar werden.

Dann sich treiben lassen
mit dem Wasserlauf
bis zur Mündung
in den Strom,
bis zum Meer.

Und wieder
gegen das Geströme schwimmen,
zurück zur Quelle,
dort fruchtbar werden.

Und der Strom
in seinem breiten Gebettetsein
speist sich aus seinen vielen
springlebendigen Anfängen.

Ihnen
verdankt er immerzu
sein Bleiben im Treibenden.

Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.

Streuobstwiese am Hang

Zuruf im Mai 2021

Ich erinnere
einfache Zäune,
geflochten aus Totholz.
Darin wohnt hier häufig der Wind,
belebt und besingt das knorrige Geäst,
das einmal durchgrünt war.

Dahinter eine alte Obstwiese voller Blütenweiß:

Kirschen, Birnen, Äpfel,
eine wundersame Treppe zum Himmel,
in wolkigen Stufen.

Mein Schauen steigt auf
über flaumige Baumkronen
voller Poesie,

voller Frucht,
die erst geträumt.

Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.

Einschreiben

Zuruf im Juni 2021

Moment in Corona-Zeiten

Meine aufgeregte Hand
kleckst leuchtende Worte
auf alte, entleerte Briefumschläge,

habe gerade nichts Anderes zur Hand,
meine Ehrfurcht vor dem Leben,
meine Liebe, meinen Dank
einzuschreiben in diese Zeit,

unauslöschlich,
unverlierbar,
unerwartet geschenkt,

gefühlt unsterblich.

Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.

Julimorgen

Zuruf im Juli 2021

Das hüpfende Gedicht,
d as der Rotschwanz
in den Garten schreibt,

das holprige Kreuzen des Rabenkrähenflugs
wie torkelnde Schachtelsätze,
bodennah,

die Punktheftung mit Flügelschlag,
der rüttelnde Falk markiert sie auf halber Höhe
mit seiner beutegreifenden Stoßtiefe,

aber auch,
zwischen metallisch-stumpfgrünen Gräsern
dieses Sich-Öffnen der Sommerblumen,
ihr Lichtspiel in duftenden Kelchen,
die Tau und Bienen aufnehmen
und Hummeln.

Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.

Amsel

Zuruf im August 2021

Die schwarze Schöne
wetzt ihren leuchtenden Schnabel
an sattgrünen Zweigen,
schaut durch einen Lidring aus Löwenzahngelb
mit ihren dunklen Augen in die Welt.

Sie ist es,
die den Vogelgesang in der Frühe anstimmt.
Ihr fröhliches Gelb singt sie dann
in warm-frischen Tönen.

Kollateralschäden

Zuruf im September 2021

Immer wieder regnet es Eis.

Es verhagelt dir die Seele,
das viele Leid in der Welt,
die Gewalt, die Abgründe, der Terror,
der Fundamentalismus überall,

und diese ohnmächtige Vereinzelung,
in die dich das alles drängt,
dieser Rückzug gefühlt ohne Hoffnung.

Und dennoch: Das Herz warmhalten,
dass es mitleidend bleibt,
statt hart zu frieren,

und gemeinsam widerstehen

Meditation

Zuruf im Oktober 2021

Der nächtliche Regen hat aufgehört.

Frühes Licht glänzt in perlmutternem Klang,
wölbt sich leuchtend in den Himmel
wie ein großes muschelförmiges Zelt.

Zwei Graureiher, von rechts kommend, tauchen darin ein.
Sie kehren gesättigt von den Dorfteichen zurück.

Ihre Flügelbewegung wirkt wie ein gemächlicher Ruderschlag
auf einem See mit Lichtspiegelungen.

Mein Sehen wird langsamer und langsamer.
Die großen Vögel scheinen fast in der Luft zu stehen.

Ich staune.

Aus „Werde kein Zweig kleiner Vogel“, erschienen im April 2021.

Laub Leib

Zuruf im November 2021

Wir atmen
aus dem Grünen ein
und wieder aus
in das Grünen zurück.

So mischt sich unser Atem mit den Pflanzen.

Und am Ende
werden unsere Leiber der Erde übergeben,
dem Grünen zur Nahrung.

Und vielleicht
klingt etwas von ihnen nach
im Blätterrauschen,
im Kronenfluss,
im ozeanischen Chor der Wälder,

aus zarter Flugsaat,
vom Licht gezogen,
vom Licht bewegt.

Ich warte

Zuruf im Dezember 2021

Ich warte

Ich übe mich darin
mich dem Kommenden zu überlassen
das vielleicht gar nicht kommt

oder

es kommt etwas Anderes
auf mich zu
als ich erwarte habe

Ich erwarte

Ich fühle mich im Warten
an meine Erwartungen
ausgeliefert

Vielleicht liegt der Sinn
des Wartens im Warten selbst
und ich übe mich darin

aus dem Buch: ZURUFE (2012)