2014
-eine tägliche Übung-
Zuruf im Januar 2014
Morgens in der Frühe
lege ich mich in ein Boot ohne Ruder
und lasse mich treiben
auf einem Ozean voller Verheißungen
in dem tiefen Vertrauen
nicht unterzugehen
und geführt zu werden
an grasgrüne Küsten
Auf dem Rücken liegend
schaue ich in die große Weite des Himmels
und überlasse mich dem Empfangen
Sich sehen lernen
Zuruf im Februar 2014
Sich
sehen lernen
im Bildraum
sich
verstehen lernen
am Gegenüber
sich
verstanden fühlen
im antwortenden Du
heilsam
über schmerzliche Trümmer
hinweg
ein Jetzt erscheint
ein Moment
Das Mögliche zum Fließen bringen
Zuruf im März 2014
Kam eine Witwe zum Propheten Elischa und klagte laut:
„Mein Mann war dir immer ein treuer und guter Diener.
Nun ist er gestorben.
Wir sind arm und verschuldet.
Morgen kommen die Gläubiger meine beiden Söhne holen,
um sie als Sklaven zu verkaufen. – Was soll nur aus mir werden?“
Der Prophet fragte sie: „Frau, was hast du im Haus?“
„Nichts!“, erwiderte die Frau jammernd, „nichts als einen Krug voll Öl.“
Der Prophet trug ihr auf: „Dann leihe dir in deiner Nachbarschaft und draußen auf der Straße leere Gefäße, nicht zu wenige.
Schließe dich mit deinen Söhnen ein und gieße das Öl in die leeren Gefäße, bis sie voll sind.“
Sie tat, wie er es ihr gesagt hatte.
Und es geschah, dass sich alle leeren Gefäße füllen ließen.
Als das letzte bis zum Rand voll war, stand der Ölkrug still.
Dann sagte der Prophet zur Witwe: „Verkaufe nun das Öl.
Bezahle deine Schulden und von dem, was übrig bleibt,
kannst du mit deinen Söhnen fortan leben.
(frei nach Buch Könige II. 4. 1-7)
Unter laublosen, alten Eichen
Zuruf im April 2014
Unter laublosen, alten Eichen
finde ich früh im Frühjahr
das seltene, lilablaue Leberblümchen
mit den gutmütig dreilappigen Blätterhänden.
Von einer solchen Einfachheit
trostreich und wunderschön
kann die Antwort über die Schöpfung sein
auf unsere drängenden Fürbitten und
unsere komplizierten Fragen.
Kirschbäumchen
Zuruf im Mai 2014
An die zarten Zweige
wie geworfen die ersten Blüten
geflüsterte Lichter ohne Gewicht
ausgestreut von unsichtbarer Hand
Sie filtern Frühlingsklang aus der Luft
Aus der Ferne tönt meeriges Rauschen
von Schwarzpappeln auf
und bringt mir meine Kinderseele zurück
Damals war mir das Blütenweiß alles
und mich verlangte es nicht nach Kirschen
Ich fühle meine Wehmut aus dieser Zeit
als ich weinend unter dem Blütenschnein stand
und versuchte mit meinen kleinen Händen
das weiche Weiß zu retten
Vom Umgang mit Fragmenten
Zuruf im Juni 2014
Ein Fragment betrachte ich anders
als etwas Ganzes
Hier schaue ich nicht
nach Fehlern und Unebenheiten
Mein Augenmerk liegt auf dem
was überdauert hat
Besticht das Ganze
durch sein In-Ordnung-sein
ruft das Fragment in mir
den fürsorglichen Blick hervor
für das Übriggebliebene
Ich übertrage Wundsein
Leid Lebensgeschichte
menschliche Dimensionen
Ich fühle mit dem Beschädigten
und mein Schauen wird
tuchfühlend
So wird mir das Fragment
zur Betrachtung des Lebens
und der Welt
Ich horche es ab
nach verborgenen Zurufen
Sauerampfer
Zuruf im Juli 2014
Auf
dünnem Stängel
in
guter Höhe
sammelst
du
schwebend
Licht
in deinem
Samenstand
rotorange glühend
morgens
und
abends
wenn
die Sonne
tief steht
Leuchten
für einen
Sommer
Kontemplative Malerei
Zuruf im August 2014
Sich entgrenzen
über sich selbst hinaus gehen
dort neuen Raum gewinnen
ihn anreichern
mit der möglichen Fülle
dann
sich zurücknehmen
an seine Säume
die Mitte
großherzig freihalten
großflächig freigeben
für die Betrachter
die hier vorbeikommen
werden
Kontemplative Malerei
Zuruf im September 2014
Sich entgrenzen
über sich selbst hinaus gehen
dort neuen Raum gewinnen
ihn anreichern
mit der möglichen Fülle
dann
sich zurücknehmen
an seine Säume
die Mitte
großherzig freihalten
großflächig freigeben
für die Betrachter
die hier vorbeikommen
werden
In einem Moment
Zuruf im Oktober 2014
In einem Moment
wird eine Welle geboren
sie löst sich zart
aus der Urgewalt Ozean
sie wächst heran von weit außerhalb
kommt aus großer Ferne
zum Lande hin
sie reift aus
als Schwung starker Energie
sie entlädt sich
an der Brandung
und mündet restlos dorthin
woher sie gekommen ist
Ist sie je dagewesen?
Im Atelier
Zuruf im November 2014
Ein botanisches Geschöpf
wächst sich aus zur Blüte und
bildet Raum aus für die nächste.
Eine Blume wird umströmt von
einem weißen, noch unberührten Raum.
Er faltet sich aus wie eine umfließende Symphonie
von Klang und Bewegung
Ich frage mich:
Ist meine Seele nicht wie
ein solches Blumenwesen und
ihre umfließende Symphonie
wie eine Bündelung der Vielfalt
meiner eigenen Töne?
Sie gewährt auf zärtliche Weise
neuen Suchbewegungen Raum
und setzt sie ermutigend
frei.
Bruder an seine Schwester:
Zuruf im Dezember 2014
Ich habe dir einen Brief geschrieben
mit einer schönroten Briefmarke
auf dem Kuver.
Ich kann ihn in keinen Briefkasten werfen,
auch als Flaschenpost erreicht er dich nicht.
Und in deine Erde stecken, das geht auch nicht.
Dein Grab wurde vor 15 Jahren aufgelöst.
Ich habe dir einen Brief geschrieben.
Dort steht:
Ich kann wieder hinter deinen Kindersarg schauen,
auch in die Zeit vor deiner Erkrankung.
Dort steht:
Ich sehe dich wieder als lebendiges Kind,
laut lachen und ausgelassen spielen.
Ich sehe dich in meinem Arm gehalten auf der Gartenbank.
Du kuschelst dich ein wenig bei mir ein,
bei mir, Deinem großen Bruder.
Dann treffen mich unvermittelt deine funkelnden Augen
als mögliche Mittvierzigerin und du sagst zu mir:
Du brauchst dich nicht dafür schuldig zu fühlen,
dass du lebst und ich nicht.
Lebe so gerne und voll, wie du magst!
Das ist völlig in Ordnung.