2019

Landschaft

Zuruf im Januar 2019

Gehn wir in das neue Jahr
wie in ein Bild,
nehmen wir den ahnbaren Weg fußbreit
durch die matt leuchtenden Nebel
der Frühe.

Wir sehen nicht die Täler und Höhen,
die uns hier erwarten,
wissen noch nichts von den Umwegen,
den Schleichwegen, den Abkürzungen,
den möglichen.

Gibt es genug Hütten für die Nächte,
genug Hoffnung,
dass über den dunklen Mähnen
schwerer Wolken uns ein gnädiger Himmel
blaut?

Lauschen wir dem Lied,
das immer mit uns geht.

Hortus Conclusus

Zuruf im Februar 2019

In der Stille gibt es einen Ton,
wie auf einem Gong angeschlagen,
der wimmert, der klagt,
wie eine verletzte Seele,
die nicht heilen kann.

Er schwingt hier lange aus,
klingt lange nach,
gibt Ton von einem Schmerz,
dem unerhörten, dem randlosen,

schwingt sich aus,
schwingt sich auf,
schwingt sich nieder,
legt sich für heute
zur Ruh.

An meinen Großvater

Zuruf im März 2019

Weißt du noch, wenn im März alles unter Froststarre lag,
da gab es diesen kleinen, warmen Ort in der Morgensonne,
wo der Frühling sich zuerst regte im grauen Winterfell:
Unter der alten Linde alljährlich eine Handvoll Winterlinge
– wie ein Nest warmgelber Köpfe junger Kanarienvögel.
Durch die dunkelbraune Laubdecke hindurch riefen sie
nach Licht.

Von hier aus brach das Wintergrau auf – unaufhaltsam,
brach auf ins Gelb der Narzissen, des Löwenzahns, des
Hahnenfuß`, brach auf ins Lilablau der Leberblümchen,
der Krokusse, des Schaumkrauts.
Von hier aus – wie aus einer mehr und mehr üppig
sprudelnden Quelle – verströmte sich alles in die Weite
der Wiesenflächen, verschwenderisch, bunt, duftend,
an den Feldrainen entlang bis in die Wälder.

(Text: Buch „Frühlingsläufer“)

Rotmilan

Zuruf im April 2019

Das Himmlische
ist vom Gleiten und Schweben
bestimmt,
vom Sinken und Steigen:
eine Vogelperspektive.

Es gibt
den kleinen, flirrenden Flügelschlag
und den großen, ausladenden,
der mit seiner Tragweite
in einer einzigen Bewegung
aus dem Gleiten heraus
Weite öffnet.

Davon lebt
das Vertikale im Bild,
seine Werdekraft.

Grüß Dich Heraklit

Zuruf im Mai 2019

Stell dir vor: Du bist ein in sich ruhendes Feuer.
Es verzehrt sich nicht. Es verzehrt auch andere nicht.
Es lodert nicht vor Sorge und Angst, lässt sich nicht verheizen.
Es will sich nicht ausbreiten, bewahrt seine Glut, seine Kraft.
Sie strömt und ist frei von Gewalt und Zerstörung.

Das Feuer leuchtet und glüht, wärmt und blüht.
Es leuchtet dir ein, leuchtet dir heim, heim ins eigene Leben.
Es singt einen glimmenden, hellen Ton. Er wohnt in deinem Ohr,
geht mit dir mit.

GRUND MOMENT

Zuruf im Juni 2019

Wenn es dir gelingt,
alles einzeln und hintereinander
und in Ruhe zu tun,
kann dich jene Stille berühren,
die unter allem verborgen strömt.

Sie scheint zu lauern
unter der Taufrische des Morgens,
wird durchsichtig
wie der sonnenbeschienene See,
auf dessen Grund du schauen kannst,
leuchtet wie ein wolkenlichtiger Abendhimmel,
bevor der Tag sich neigt.

Wie ein tiefgründiges Gedicht
unterbricht sie dich,
neu und versunken in Erinnerungen
zugleich.

Lichtung Stillefeld

Zuruf im Juli 2019

Wir brauchen Stillezonen
in denen das Bisher unseres Lebens
für eine Weile verstummen kann

dann gewährt das Alte den Raum
dass das Neue in uns Ton geben kann

Wir brauchen Orte der Stille
die uns Muße in den Gang streuen
die uns Tiefe im Fühlen und Denken öffnen
die uns Fluss in die Erinnerungsströme stiften

(Text entnommen aus dem Buch „Zurufe“)

Mitwelt

Zuruf im August 2019

Auf dem Meer trieb ein Pottwal.

Von einem Schiff angefahren
blutete er stark, lag wimmernd
im Sterben.

Bald tauchten Finnwale auf,
mehr als ein Duzend Tiere.

Sie legten ihre Leiber
um den Sterbenden wie einen Ring,
schützten ihn vor angreifenden Haien,
blieben bei ihm bis zum letzten Atemzug.

Dann erst überließen sie ihn dem Ozean.

Mitgehört bei WDR 5,
von einer Walforscherin erzählt.

Ich möchte Bilder malen

Zuruf im September 2019

Ich möchte Bilder malen:

Jedes Bild wie ein zartes Haus,
das nicht einstürzen wird
inmitten der Überschwemmungen
des menschlichen Leids, der Gewalt,
der Abgründe der Welt,

ein kleines, zartes Haus
kristallin, durchscheinend, leuchtend,
atmend, summend, singend,
zurückgenommen ins Innere, dort,
wo die Seele der Dinge wohnt.

Ich bin auch der

Zuruf im Oktober 2019

Ich bin auch der,

der stolpert,
wenn ich mit zu stolzen Schritten daherkomme,

der sich ärgert,
wenn ich höflich etwas weglächele,

der die Ruhe bewahrt,
wenn ich Angst habe,

der neben mir schweigt,
wenn ich zu viel rede,

der hofft,
wenn ich die Welt zusammenbrechen sehe,

der die Blumen pflückt,
die ich vergessene habe,
dir zum Geburtstag zu schenken.

Ich bin auch der.

Und heute gehe ich ihn mal besuchen.

Frühlingsgedanken im Herbst

Zuruf im November 2019

Totes Geäst,
abgefallenes, am Boden liegendes,
eine Rabenkrähe sammelt es ein,
trägt es fort,
tagelang,
baut daraus ein Nest.

Abgestorbenes flechtet sie
zu etwas,
in dem neues Leben wachsen wird.

Am Abend

Zuruf im Dezember 2019

Auf einer Wiesenkuppe
weit draußen
ein einzelner Baum
gekrümmt

seine Krone
eine Harfe im Wind